Natur machen. Wissen, Praktiken und Technologien der Umweltgestaltung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Natur machen. Wissen, Praktiken und Technologien der Umweltgestaltung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Noyan Dinçkal / Philipp Kröger, Historisches Seminar, Universität Siegen
Ort
Siegen
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
30.06.2023 - 01.07.2023
Von
Bettina Sophia Wagener, Historisches Seminar, Universität Siegen

Eine Wiese, die aus Gründen des Artenschutzes regelmäßig mit Panzern befahren wird, ein Berg aus Verhüttungsabfällen, der nach Begrünungsversuchen zum Naturschutzgebiet avancierte, und ein renaturiertes Flussufer – das sind drei lokale Beispiele für gemachte Natur, mit denen Philipp Kröger (Siegen) den Workshop „Natur machen“ eröffnete. Gemeinsam mit Noyan Dinçkal (Siegen) hatte er Forscher:innen aus verschiedenen Disziplinen nach Siegen eingeladen, um einem Phänomen, das die Organisatoren „Natur machen“ nennen, auf die Spur zu kommen. Im Zentrum der Überlegungen stand daher nicht eine vermeintlich unberührte oder eine nach dem Rückzug der Menschen wiederentstandene Natur, sondern eine Natur, die durch vielfältige Prozesse der Wissensproduktion, Planung und technischen Gestaltung entsteht.

In seiner Einführung stellte Kröger die gemeinsam mit Dinçkal entwickelten Überlegungen zu Definition und Periodisierung des Naturmachens vor, welche in der Folge lebhaft diskutiert und durch unterschiedliche Facetten und Perspektiven ergänzt wurden. Der Zugriff auf die Natur sei in der Moderne auf verschiedene Arten erfolgt: Als unterwerfende Kolonisierung der Natur als Ressource und – als Reaktion darauf – als konservierender Naturschutz. Die Herstellung von Natur als Natur könne nun als dritte Form des Zugriffs verstanden werden, die sich durch die angenommene Formbarkeit der Natur sowie ihre wissenschaftliche Erfassung und Normierung auszeichne und insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten sei. Die Frage nach den Zäsuren wurde aber als eine offene formuliert. Der Aspekt der Machbarkeit des Naturmachens umfasse zu einen die Vielzahl von Funktionszuschreibungen, die es in ihrem politischen Gehalt zu analysieren gelte, zu anderen den Eigensinn der Biofakte.

Im Anschluss formulierte JENS LACHMUND (Maastricht) am Beispiel des historischen Umgangs mit Brachflächen in West-Berlin konzeptionelle Überlegungen zu den sozialen Prozessen des Naturmachens. Die gemachte Stadtnatur sei ein Beispiel für die Ko-Produktion von sozialer und natürlicher Ordnung, denn im Umgang mit den Brachflächen der isolierten Stadt entstanden neue Praktiken und Wissensformen der Stadtökologie gemeinsam mit den sozialen Kollektiven der Forschenden. Auch politisches Handeln spielte eine Rolle in diesem Prozess, da politische Konflikte um die Nutzung der Flächen zu neuer Forschung und neuen Darstellungsformen des Wissens in der Öffentlichkeit führten. Naturmachen sei also als Prozess zu betrachten, in dem gleichzeitig die Natur und das Soziale geordnet werden.

Historische Perspektiven auf Praktiken und Leitbilder der Rekultivierung und Renaturierung bestimmten das nächste Panel: MARTIN BAUMERT (Bochum) zeigte anhand von Braunkohlefolgelandschaften, dass der Bergbau schon seit dem frühen 20. Jahrhundert als produktive Kraft der Landschaftsgestaltung verstanden wurde. Standen zunächst ästhetische Landschaftsbilder im Vordergrund, wurden der Nachnutzung der Flächen ab den 1950er-Jahren verschiedene Funktionen zugeschrieben, von der Wasserwirtschaft bis zur Naherholung. Schon während des aktiven Bergbaus sollte für die Nachnutzung geplant werden. Inzwischen werden die anthropogenen Kulturlandschaften der Lausitz sogar als Argument für einen Status als Weltkulturerbe angeführt. PHILIPP KRÖGER (Siegen) zeichnete anschließend die Geschichte des Naturmachens am Beispiel von Baggerseen nach. Diese Hinterlassenschaften des Kleintagebaus zur Sandentnahme gerieten seit den 1950er-Jahren verstärkt in den Fous eines gestaltenden Naturschutzes. Anhand des Beispiels eines Baggersees, der als Versuchsgelände ingenieurbiologischer Praktiken vom Hannoveraner Institut für Landschaftspflege und Naturschutz genutzt wurde, zeigte Kröger, wie sich innerhalb dieser Praktiken die Grenzen von Natur und Technik auflösten. So seien über Pflanzversuche aus Naturdingen Technik und aus technischen Artefakten Natur geworden. MARIANN JUHA (Bochum) stellte schließlich Projekte zur Gestaltung von Landschaftsparks in ehemaligen Industriegebieten des Ruhrgebiets vor. Im Zentrum ihrer Überlegungen stand die Frage, welche Rolle die materiellen Hinterlassenschaften der Industriekultur für die Landschaftsgestaltung spielten. Ihr Einfluss auf die Formensprache, vor allem in Gestalt von Strukturen und Rasterungen, sei deutlich sichtbar. In der gemeinsamen Diskussion der Beiträge wurde deutlich, dass Projekte zur Renaturierung oft auf Verstetigung und Selbsterhaltung abzielen, ihnen also der Glaube an die Machbarkeit eines stabilen Systems innewohnt.

Wie das nächste Panel zeigte, können Vorstellungen und Praktiken des Naturmachens auch als Regierungs- und Sozialtechnologien verstanden werden. In den 1970er-Jahren entstanden Vorstellungen von Freizeit als Sozialkategorie, welche unterschiedlich gefüllt und mit sozialpolitischen Funktionszuschreibungen an die gemachte Natur verbunden wurden. NOYAN DINÇKAL (Siegen) zeigte dies am Beispiel der Expert:innendiskurse zur „humanen Stadt“ in den 1960er- und 1970er-Jahren. Die Werte und Funktionen, die der Stadtnatur im Kontext von Planung zugesprochen wurden, betrafen ihren (zukünftigen) Nutzungswert für Individuum und Gesellschaft. Die Bedürfnisse der Stadtbevölkerung wurden dabei paternalistisch angenommen und berechnet. Der Nutzen der Natur lag seit den 1970er-Jahren vor allem in der „sinnvollen Freizeitgestaltung“, daher wurden beispielsweise Versuche unternommen, den Erholungs- und Freizeitwert von Vegetation zu quantifizieren. Das Verhalten der Menschen, die die urbane Natur tatsächlich nutzten, widersprach allerdings häufig diesen Plänen. Dass nicht nur die urbane Natur aufgrund ihrer angenommenen Funktionen gestaltet wurde, zeigte OLIVER SUKROW (Wien) am Beispiel von Kurorten in der DDR. Hier sollte die gemachte Natur die Reproduktion der Arbeitskraft garantieren. Der Gestaltung von Kurorten kam eine wichtige Funktion in der Selbstrepräsentation zu, indem bürgerliche Vorstellungen und Formen des Kurwesens aus dem 19. Jahrhunderts ersetzt werden sollten. Die Ansprüche an eine neue, rationell-ästhetische Form seien allerdings häufig nicht realisiert worden. Stattdessen sei eine eher konservative Gestaltung der Orte durch ephemere Objekte und Praktiken – zum Beispiel Banner und Umzüge – ideologisch umgedeutet worden. Mit bürgerlichen Formen der Landschaftsgestaltung setzten sich auch die Mitglieder des Weimarer Bauhaus auseinander, wie MATS WERCHOHLAD (Weimar) darlegte. Der Weimarer Stadtpark stellte einen wichtigen Bezugspunkt dar und diente gerade den Mitgliedern, die esoterischen Bewegungen nahestanden, als Quelle von Eindeutigkeit und Ort der Rituale. Sie ergänzten das klassische Ensemble des Parks aber auch um das 1923 entstandene Musterhaus am Horn.

Eine andere Form von Parks – die Nationalparks – standen im nächsten Panel im Mittelpunkt. HENRIK SCHWANITZ (Dresden) untersuchte anhand des Beispiels Sächsische Schweiz Vorstellungen, Wissen und Praktiken zur Umweltgestaltung in der DDR. In Abgrenzung zu den unberührten Landschaften der Nationalparks in den USA sollte hier die Landschaft für den Menschen gestaltet und ihr Erholungswert für eine sinnvolle und gesunde Freizeitgestaltung gesteigert werden. Da die sozialistische Ideallandschaft durch eine harmonische Mehrfachnutzung gekennzeichnet war, sollte sie auch industriell genutzt werden. In der Realität sperrte sich die SED allerdings gegen die Einrichtung des Nationalparks Sächsische Schweiz, da die ökonomische Nutzung der Landschaft priorisiert wurde. Die Frage nach dem Wert der menschlichen Nutzung von Landschaft stellte sich auch im Kontext des Unesco-Biosphären-Programms in den 1970er- und 1980er-Jahren, wie PHILIPP KUSTER (München) zeigte. Ein ambitioniertes Forschungsprogramm sollte das Zusammenspiel von sozialen und ökologischen Systemen in den ausgewählten Gebieten untersuchen. Die Bewertung der menschlichen Nutzung von Biosphärengebieten wandelte sich dabei: Zunächst sollte sie allein auf die Außenbereiche der Reservate beschränkt bleiben, während die Natur im Kern unberührt bleiben sollte. Später stand dann die Interaktion zwischen Mensch und Natur im Zentrum des Interesses.

Dass gemachte Natur auch zu großen Teilen aus Plastik besteht, führte STEFAN POSER (Karlsruhe) zu Beginn des nächsten Panels zu „Technonaturen“ eindrücklich vor Augen. Er systematisierte die verschiedenen Arten, auf die Plastik in die Natur gelangt und ein Teil von ihr wird, und stellte dabei vier Prozesse heraus: Erstens die Vernutzung, das heißt der Plastikmüll, der ganze Landschaften prägt. Zweitens die Optimierung, zum Beispiel der Bodenqualität. Durch die Vermischung von Kunststoffen und Erde kann Boden feuchter oder trockener gemacht werden. Drittens die Reparatur durch Kunststoffelemente, zum Beispiel von Korallenriffen. Viertens die (ästhetische Gestaltung) in der Form von Skulpturen, Gartenteichen oder Kunstrasen. Kunststoff sei somit ein zentrales Material des Naturmachens. Die Konsequenzen dieses fortschreitenden Prozesses der Plastifizierung sind unter anderem Bodenversiegelung und Mikroplastik. Auch EIKE-CHRISTIAN HEINE (München) beschäftigte sich mit einer künstlich geschaffenen (Lebens-)Umwelt in Form der Unterwasserstation bzw. des „Unterwasserhauses“ des Forschers Hans Fricke. Die Analyse seiner populärwissenschaftlichen Filme aus den 1970er-Jahren zeigte, dass Fricke sich – trotz der inszenierten Häuslichkeit und Geborgenheit seiner Station – nur bedingt als Teil der maritimen Umwelt verstand. Die Utopie, mithilfe von Technik Teil des Ozeans zu werden und ihn zu kolonisieren, konnte nicht verwirklicht werden. Eine weitere Perspektive auf die Interaktion von Mensch und Natur stellte JULIAN STALTER (München) vor, indem er sich mit den Mensch-Pflanzen-Interaktionen in verschiedenen digitalen Kunstwerken auseinandersetzte. Wenn beispielsweise Betrachter:innen mit realen Pflanzen interagieren und dadurch programmierte Licht- und Toneffekte auslösen, fördere dies durch die gesteigerte Qualität der alltäglichen Handlungen das Bewusstsein und die Reflexion für den Umgang mit Natur.

In der Abschlussdiskussion wurden verschiedene Aspekte der Vorträge aufgenommen, wie etwa die Frage nach der Periodisierung des Naturmachens und damit die Frage, ob die Phase der Herstellung von Natur als Natur tatsächlich vorrangig erst ab den 1950er-Jahren zu beobachten sei. Die Vorträge hatten gezeigt, dass verschiedene Praktiken, beispielsweise der Landschaftsgestaltung, schon länger – häufig seit Beginn des 20. Jahrhunderts – existierten. Ab den 1950er Jahren-könne aber doch eine Verdichtung und Beschleunigung der Prozesse beobachtet werden. Insgesamt bot der Workshop, der in sehr entspannter Atmosphäre stattfand, eine wunderbare Gelegenheit zum interdisziplinären Austausch und gab – sowohl aufgrund der konzeptionellen Überlegungen als auch der vielfältigen Einzelbeispiele – einige faszinierende Anstöße für die Wissenschafts-, Umwelt- und Technikgeschichte.

Konferenzübersicht:

Panel I: Natur machen aus theoretischer Perspektive

Noyan Dinçkal (Siegen) / Philipp Kröger (Siegen): Natur machen – Einführung

Jens Lachmund (Maastricht): Stadt-Natur machen. Praktiken der Ko-produktion von Wissen, Politik und materieller Umwelt

Panel II: Neue Landschaften. Rekultivierung und Renaturierung

Martin Baumert (Bochum): Rekultivierungspraktiken und Imaginationen von Braunkohlefolgelandschaften

Philipp Kröger (Siegen): Die Produktion von Hybriden. Überlegungen zur Geschichte der Ingenieurbiologie und eines Baggersees als Versuchsgelände des Natur Machens

Mariann Juha (Bochum): Neue Farbe: grün. Industriekultur und Landschaft

Panel III: Natur machen als Politikform und Sozialtechnik

Noyan Dinçkal (Siegen): Die Produktion urbaner Umwelten als Versprechen guten Lebens, ca. 1970

Oliver Sukow (Wien, Darmstadt): Gesund-machende Natur. Das sozialistische Kurortmilieu als gestalterische und ideologische Aufgabe der Umweltgestaltung der DDR

Mats Werchohlad (Weimar): Der Konflikt zu Natur und Umwelt am frühen staatlichen Bauhaus

Panel IV: Natur machen und Naturschutz

Henrik Schwanitz (Dresden): Ein Nationalpark für die Sächsische Schweiz? Oder: ‚Natur machen‘ im Sozialismus

Philipp Kuster (München): Jenseits von Natur? Die Biosphärenreservate der Unesco in den 1970er und 1980er Jahren

Panel V: Technonaturen

Stefan Poser (Karlsruhe): Formaldehyd-Harze im Weinberg und Minibiotope in Kunststoffwannen. Der Einsatz von Kunststoffen zum ‚Natur-Machen‘ und deren Rezeption

Eike-Christian Heine (München): Vom Leben im Unterwasserhaus. Zur technischen Herstellung menschlicher Habitate in extremen Umwelten

Julian Stalter (München): Das Kunstwerk als interaktiver Garten – Naturgestaltung in digitaler Kunst

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